Chávez auf Abwegen

Was hat Venezuelas Präsidenten Hugo Chávez dazu getrieben, Joaquín Pérez Becerra an Kolumbien auszuliefern? Ein Anruf seines kolumbianischen Amtskollegen Juan Manuel Santos genügte, damit die venezolanischen Behörden den schwedischen Journalisten tagelang in Isolationshaft festhielten, ihm den Beistand des schwedischen Konsulats verweigerten und ihn dann nicht etwa aufgrund eines internationalen Haftbefehls an Bogotá auslieferten, sondern ihn ganz einfach abschoben – und zwar nach Bogotá. Damit sollten die bürokratischen Verfahren abgekürzt werden, hieß es dazu in Caracas.

Noch vor wenigen Monaten empfing Chávez im Präsidentenpalast Miraflores die führenden Köpfe der kolumbianischen Guerilla und sprach sich dafür aus, die FARC als kämpfende Partei im kolumbianischen Bürgerkrieg anzuerkennen, um dadurch einer Verhandlungslösung näherzukommen. Gegen den erbitterten Widerstand des damaligen kolumbianischen Staatschefs Álvaro Uribe erreichte Chávez auf diese Weise die Freilassung einer Reihe Gefangener aus der Gewalt der Guerilla. Nun aber wiederholt er Bogotás Phrasen über »Drogenhändler« und »Terroristen«. Damit sichert Chávez zwar die derzeit stabilen Beziehungen zum Nachbarland. Zugleich jedoch opfert er seine Glaubwürdigkeit als Führungspersönlichkeit eines revolutionären Prozesses, mit dem zahlreiche Menschen weltweit große Hoffnungen verbinden.

Der Spagat zwischen offiziellen Beziehungen, die ein Regierungs­chef mit anderen Staaten führen muß, und Sympathien für Oppositionskräfte in denselben Ländern ist kompliziert. Da kann sich ein Sozialist wie Chávez durchaus als zeitweiliger Verbündeter eines Mannes wie Mahmud Ahmadinedschad wiederfinden. Da kann auch eine Männerfreundschaft mit einem ultrarechten Herrscher wie Santos beschworen werden. Diplomatie ist aber kein Grund, die eigenen Gesetze zu verletzen, um dem Gegenüber einen Gefallen zu tun. Staatsbeziehungen sind keine Rechtfertigung dafür, einen Journalisten – dem keine Beteiligung an bewaffneten Aktionen vorgeworfen wird – rechtswidrig an eine Bürgerkriegspartei auszuliefern.

Chávez riskiert nicht nur eine diplomatische Krise mit Stockholm wegen der Auslieferung eines schwedischen Staatsangehörigen. Die könnte er problemlos aussitzen. Doch er könnte das Vertrauen zerstört haben, das viele Menschen weltweit bislang in ihn gesetzt haben. In ersten Reaktionen wurde er von lateinamerikanischen Linken bereits als »Verräter« beschimpft. Diese Verbündeten werden ihm fehlen, wenn er sie – eher früher als später – wieder braucht. Die Rechte im eigenen Land verzeiht ihm die Bolivarische Revolution nicht. Sie wird auch weiterhin versuchen, ihn mit allen Mitteln von der Macht zu verdrängen und die Errungenschaften der vergangenen zwölf Jahre umzukehren. Wenn Chávez dann auf Unterstützung von Santos hoffen sollte, könnte sich das als tödlicher Fehler herausstellen.

Kommentar erschienen am 27. April 2011 in der Tageszeitung junge Welt