Caracas in Rot

Die Avenida Bolívar ist eine der zentralen Verkehrsachsen im Zentrum der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Auf acht Spuren quält sich hier normalerweise der Autoverkehr entlang. Am Donnerstag jedoch gehörte diese Straße, ebenso wie die benachbarten Verkehrswege und die Freiflächen zwischen ihnen der bolivarischen Bewegung Venezuelas. Präsident Hugo Chávez, der sich am Sonntag um seine Wiederwahl bewirbt, hatte seine Anhänger zur Abschlußkundgebung des Wahlkampfes aufgerufen – und mehrere Millionen kamen. Pausenlos spuckte die völlig überfüllte Metro Menschen aus, die meisten von ihnen in rote T-Shirts gekleidet. Andere kamen zu Fuß oder waren in Bussen angereist. Schon morgens um 10 Uhr waren die Straßen dicht bevölkert.

Großeltern spazierten mit ihren Enkelkindern umher, während deren Eltern vermutlich noch im Büro saßen. Viele Jugendliche tummelten sich ausgelassen vor den zahlreichen Bühnen, auf denen Bands Musik spielten und zum Tanzen einluden. Andere hatten sich in ihren Vierteln oder Betrieben gesammelt und kamen in geschlossenen Blöcken anmarschiert. Arbeiter von Polar, dem wichtigsten Lebensmittelkonzern Venezuelas, erzählten junge Welt schmunzelnd, ihre Chefs sähen es gar nicht gern, daß sie an einem Werktag zu der Demonstration gegangen waren, anstatt am Arbeitsplatz zu erscheinen – »doch das hier lassen wir uns nicht nehmen«. Sie rechnen Chávez besonders das vor wenigen Monaten verabschiedete neue Arbeitsgesetz hoch an, das den Beschäftigten weitreichende Rechte gewährt. Junge Leute befürchten hingegen, daß sie ihre Ausbildung nicht fortsetzen können, wenn bei einem Wahlsieg des Kandidaten der Rechten, Henrique Capriles Radonski, die sozialen Programme der Regierung Chávez im Bildungsbereich gestrichen würden. Capriles hatte am Vorabend Unruhe ausgelöst, als er im Interview mit dem privaten Fernsehsender Venevisión die Ausgaben für Bildung dafür verantwortlich machte, daß die Kriminalität in dem von ihm als Gouverneur regierten Bundesstaat Miranda zur höchsten in ganz Venezuela gehört.

Während sich immer mehr Menschen auf der Avenida Bolívar drängten und das staatliche Fernsehen Venezuelas damit begann, die imposante Masse vom Hubschrauber aus zu filmen, um einen Eindruck über die Größe der Demonstration zu vermitteln, strahlte der stramm regierungsfeindliche Fernsehsender Globovisión »eigene Aufnahmen« aus, die sollten, daß im Stadtzentrum kaum Menschen unterwegs seien. Wann und wo diese Aufnahmen tatsächlich entstanden, bleibt fraglich – im Stadtzentrum könnten sie höchstens in den frühen Morgenstunden aufgenommen worden sein. Doch die Opposition, die für sich reklamiert, am vergangenen Wochenende eine Million Menschen am selben Ort versammelt zu haben, will ihre Anhänger in der Überzeugung lassen, daß Capriles die Wahl bereits gewonnen habe. Dieser weigert sich noch immer, eine Anerkennung der offiziellen Wahlergebnisse zu garantieren.

Anhänger des amtierenden Präsidenten befürchten deshalb, daß die Regierungsgegner einen »Plan B« vorbereiten. So sollen demnach bereits vor Schließung der Wahllokale von ausländischen Medien wie der spanischen Tageszeitung ABC angebliche Nachwahlbefragungen veröffentlicht werden, die Capriles zum Sieger erklären. Über Internet soll diese Information dann nach Venezuela übermittelt werden, um die Oppositionellen in Siegestaumel zu versetzen. Wenn der Nationale Wahlrat (CNE) dann am Abend die offiziellen Ergebnisse bekanntgibt – und diese von den so lancierten Zahlen abweichen – würden die von ihren eigenen Leuten getäuschten Oppositionellen Wahlbetrug wittern und Unruhen anzetteln, so das Kalkül. Um dies zu verhindern, hoffen die Chávez unterstützenden Parteien auf eine möglichst deutliche Mehrheit des Amtsinhabers, um dadurch Manipulationsgerüchten von vornherein den Boden zu entziehen.

Auf der Avenida Bolívar war von solchen Befürchtungen am Donnerstag wenig zu spüren – und auch eine Niederlage von Hugo Chávez war für die hier Versammelten kein Thema. Die zahlreichen fliegenden Händler machten bei den heißen Temperaturen gute Geschäfte mit eisgekühlten Getränken und kleinen Speisen. Offizieller Beginn der Kundgebung war um 11 Uhr vormittags, doch noch um 15 Uhr strömten Menschen in das Zentrum. Der Strom riß auch nicht ab, als ein heftiger Wolkenbruch im Stadzentrum niederging, der Präsident Chávez auf der nicht überdachten Bühne ebenso durchnäßte wie die Tausenden vor ihm. Der Staatschef wertete den Regen prompt als gutes Zeichen und als Symbol für die Trinkwasserversorgung, an die inzwischen die allermeisten Venezolaner angeschlossen sind. Er rief seine Befürworter auf, bis zum Wahltag nicht nachzulassen, denn auf dem Spiel stehe »das Leben Venezuelas«.

Chávez erinnerte daran, daß in Venezuela unter den früheren Regierungen Hunger und Armut geherrscht habe. »Heute gibt es keinen Hunger mehr in Venezuela! Dank der Revolution ernährt sich das ganze Volk in würdevoller Weise!« Ziel müsse nun sein, die Armut in den kommenden sechs Jahren auf Null zu reduzieren: »Keine einzige Familie bleibt in Venezuela ohne würdige Unterkunft. In sechs Jahren müssen wir weltweit an erster Stelle bei Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnraum, Lebensmittelangebot und Arbeit stehen!« Es dürfe in Venezuela keinen einzigen Arbeitslosen mehr geben. Abschließend rief der Staatschef dazu auf, früh zur Wahl zu gehen, damit »der Sieg von Chávez schon zur Mittagszeit unbestreitbar ist«.

Erschienen am 6. Oktober 2012 in der Tageszeitung junge Welt