Caracas blieb friedlich

Die Entscheidungsschlacht ist ausgeblieben: Zehntausende Anhänger und Gegner der venezolanischen Regierung haben am Donnerstag in Caracas weitgehend friedlich für ihre Ziele demonstriert. Die im Vorfeld befürchteten Ausschreitungen gab es kaum. Dazu hatte offenkundig ein Großaufgebot der Sicherheitskräfte beigetragen, die massiv Präsenz zeigten und beide Seiten auf Abstand hielten. Nur in Altamira und auf der Stadtautobahn Francisco Fajardo kam es am Abend zu Scharmützeln zwischen radikalen Regierungsgegnern und der Nationalgarde. Davon distanzierten sich auch Sprecher der Opposition wie der Bürgermeister von Chacao, Ramón Muchacho. Dieser erklärte über den Internetdienst Twitter: »Gewalt muss überall zurückgewiesen werden.«

In den Tagen zuvor hatten Polizei und Nationalgarde mehrere Oppositionspolitiker festgenommen, bei denen Pläne und Material für gewaltsame Aktionen gefunden wurden. Zudem hatte die Geheimpolizei Regierungs­angaben zufolge eine Gruppe von knapp 100 Paramilitärs aus Kolumbien zerschlagen, die sich im Norden der Hauptstadt, »500 Meter vom Präsidentenpalast Miraflores entfernt«, gesammelt hätten.

Die Opposition versammelte sich in ihren traditionellen Hochburgen, den Vierteln der wohlhabenden Mittelschicht im Osten der Metropole. Hatten ihre Sprecher zuvor von einem »historischen Tag« gesprochen, die »Einnahme von Caracas« angekündigt und ihre Demonstration schon mit dem Volksaufstand gegen die Diktatur von Marcos Pérez Jiménez 1958 verglichen, blieb es letztlich bei einer gut einstündigen Kundgebung. Die Deutsche Presseagentur übernahm am Freitag morgen die Veranstalterangaben und sprach von »mehr als einer Million« Teilnehmern auf der Avenida Libertador. Diese Übertreibung ist ähnlich absurd wie die von Regierungssprechern genannte Zahl von nur 30.000 Regierungsgegnern.

Inhaltlich kündigte der Sprecher des Oppositionsbündnisses MUD (Tisch der demokratischen Einheit), Jesús »Chúo« Torrealba, vor allem weitere Aktionen an. Noch am gleichen Abend sollten die Oppositionellen einen »Cacerolazo« veranstalten, also sich zu Hause ans Fenster stellen und auf Töpfe schlagen, um lautstark gegen die Regierung zu protestieren. Zudem soll es am 7. September landesweit mehrstündige Kundgebungen vor den Büros des Nationalen Wahlrats (CNE) geben. Die Opposition wirft der Wahlbehörde vor, die Durchführung eines Amtsenthebungsreferendums gegen Venezuelas Präsidenten Nicolás Maduro zu verschleppen.

Viele Regierungsgegner reagierten enttäuscht auf das unspektakuläre Ende der großangelegten und wochenlangen Mobilisierung der Rechtsparteien. Fernsehsender zeigten erregte Diskussionen zwischen jungen Demonstranten, die nicht einfach nach Hause gehen wollten, und einem Parlamentsabgeordneten der Rechtsparteien. Dieser erklärte, man habe »nicht genügend Leute« auf die Straße gebracht, um weitere Aktionen durchzuführen. Im Internet hagelte es wüste Beschimpfungen der eigenen Gefolgsleute gegen die führenden Repräsentanten des rechten Lagers. Die Studentin Carolina Kassales schimpfte etwa auf Twitter über die Rechtsallianz: »Soviel Zeit aufzuwenden, um zum Demonstrieren aufzurufen, und dann werden wir wieder nach Hause geschickt! Diese verdammte MUD ist reiner Betrug! «

Zeitgleich zu der Kundgebung im Osten von Caracas versammelten sich auf der Avenida Bolívar im Zentrum der Hauptstadt Zehntausende Unterstützer des bolivarischen Prozesses. In seiner Ansprache kündigte Präsident Maduro eine »Gegenoffensive der Revolution« an, die von diesem Tag an bis zum Jahresende laufen werde. Man werde »die öffentliche Politik umwälzen«, um die Korruption zu bekämpfen und alles zu verändern, was im Staatsapparat verändert werden müsse. Dazu wolle man Kanäle eröffnen, damit die Bevölkerung direkt Beschwerden über Versäumnisse von Beamten vorbringen könne. Oftmals würden Leute mit bestimmten Aufgaben betraut, die diese aus »Inkompetenz« nicht erfüllen könnten. Der Staatschef richtete einen Gruß »an alle Venezolanerinnen und Venezolaner, die anders denken als wir«.

Erschienen am 3. September 2016 in der Tageszeitung junge Welt