Böse Erinnerung

Nach 69 Tagen Gefangenschaft in der eingestürzten Mine San José haben die geretteten Bergleute in Chile ihr erstes Wochenende an der frischen Luft genossen. Nur einer der 33 Bergleute blieb vorläufig noch im Krankenhaus. Unterdessen weckte die erfolgreiche Rettungsaktion in Mexiko traurige Erinnerungen. Vor fast fünf Jahren waren in Pasta de Conchos 65 Kumpel bei einem Grubenunglück verschüttet worden, doch schon nach wenigen Tagen hatten die mexikanische Regierung und das Bergwerksunternehmen Grupo México erklärt, daß für die Mineros keine Überlebenschance besteht. Die Suche wurde eingestellt. Zwar wurde damals angekündigt, die Leichen bergen zu wollen, doch lediglich zwei der Opfer konnten im Juni 2006 und am 1. Januar 2007 aus der Tiefe geholt werden.

Die Bilder aus Chile erzeugten in Mexiko neben Freude auch Trauer. So sagte Elizabeth Castillo Rábago, die bei der Katastrophe ihren Ehemann verlor, der mexikanischen Tageszeitung Vanguardia Mitte vergangener Woche: »Meine Kinder und ich haben geweint, als wir sahen, wie sie den Verschütteten in Chile gesagt haben, daß sie sie rausholen werden. Bei uns hätte es ebenso sein können…« 65 Bergleute waren damals, am 19. Februar 2006, zur Nachtschicht in das Bergwerk im Nordosten Mexikos eingefahren. Fünf Tage nach dem Unglück erklärte das Unternehmen, die Bergungsarbeiten müßten für einige Tage unterbrochen werden, weil die Rettungsmannschaften einen Bereich des Stollens erreicht hätten, in dem hohe Gaskonzentrationen festgestellt worden seien. Letztlich wurden die gesamten Arbeiten eingestellt.

Für Raúl Vera, den Bischof von Saltillo, der Hauptstadt des Bundesstaats Coahuila de Zaragoza, in dem auch die Unglücksmine liegt, war dies ein Verbrechen. In Chile hätten sich Regierung und Unternehmer zusammengetan, um die Bergleute zu retten, während sie dies in Mexiko gemeinsam verhindert hätten, sagte der Geistliche am Mittwoch der Journalistin Carmen Aristegui vom Rundfunksender Noticias MVS. Man wolle die Körper der Getöteten nicht bergen, weil man sie zusammen nahe der Einsturzstelle finden könnte. Das jedoch würde beweisen, daß die Kumpel gelebt und auf ihre Rettung gewartet hätten, so Vera. Auch die mexikanische Bergarbeitergewerkschaft verurteilt angesichts der Rettungsaktion im Süden des Kontinents die Grupo México und die Regierung. »Seid ihr jetzt zufrieden damit, daß ihr 65 mexikanische Bergleute am 19. Februar 2006 habt sterben lassen?« fragt die Gewerkschaft auf ihrer Homepage namentlich den damaligen Staatschef Vicente Fox und den heutigen Präsidenten Felipe Calderón.

Am 20. November 2008 hatten linke Organisationen und Basisgruppen aus dem Umfeld der Zapatisten auf eigene Initiative damit begonnen, die Suche nach den Opfern wieder aufzunehmen. Die Behörden setzten Polizei gegen die Aktivisten ein. Noch Anfang Juli 2010 räumten Uniformierte ein von den Unterstützern der Suche errichtetes Zeltlager an der Mine und versiegelten den bislang gegrabenen Zugang mit Stahlbeton. Die Angehörigen der Verschütteten, die sich zur »Familie Pasta de Conchos« zusammengeschlossen haben, befürchten nun, daß die Polizeiaktion der Vorbereitung einer Wiederaufnahme der Bergbautätigkeit in diesem Gebiet dienen sollte. Nach dem Unglück 2006 hatte die Zentralregierung die Genehmigung für solche Aktivitäten verwehrt.

Erschienen am 18. Oktober 2010 in der Tageszeitung junge Welt