junge Welt, 27. Oktober 2011

Bitte weiterbomben!

junge Welt, 27. Oktober 2011Die NATO soll ihren Krieg gegen Libyen zumindest bis Jahresende fortsetzen. Das forderte der Chef des »Nationalen Übergangsrats« (NTC), Mustafa Abdel Dschalil, am Mittwoch in Doha bei einer Konferenz mit den Staaten, die sich daran militärisch beteiligen. Dabei machte Dschalil sich nicht einmal mehr die Mühe, auf eine Gefährdung der Zivilbevölkerung durch Truppen des am vergangenen Donnerstag ermordeten langjährigen Staatschefs Muammar Al-Ghaddafi zu verweisen, die der NATO als Vorwand für ihre Einsätze dient. Vielmehr müsse es darum gehen, die Flucht von Ghaddafi-Getreuen ins Ausland zu verhindern, so Dschalil. Die Militärallianz verschob daraufhin ihren Beschluß über eine Beendigung des Einsatzes auf den morgigen Freitag.

Trotz der am Wochenende offiziell verkündeten »vollständigen Befreiung« Libyens ist die Position des NTC in Libyen offenbar längst nicht so stabil, wie es die meisten internationalen Medien darzustellen versuchen. So wies der US-amerikanische Nachrichtendienst Stratfor am Mittwoch darauf hin, daß der NTC zwar von zahlreichen Regierungen mittlerweile als Vertretung des libyschen Volkes anerkannt worden sei, tatsächlich jedoch nur »eine von mehreren politischen Kräften« in dem nordafrikanischen Land sei. »Seit die Rebellentruppen am 21.August in Tripolis eingedrungen sind, gibt es dort eine zunehmende Zahl bewaffneter Gruppen, die die Autorität führender NTC-Mitglieder in Frage gestellt haben«, heißt es in einer von dem Dienst verbreiteten Analyse. Eine friedliche Lösung der Spannungen hält Stratfor für »unwahrscheinlich«.

Auch die Ghaddafi-Anhänger wollen ihren Widerstand gegen die neuen Herren nicht aufgeben. Eine bislang unbekannte »Libysche Befreiungsfront« habe erklärt, sie habe die Explosion von zwei Treibstofftanks am Montag in Sirte ausgelöst, berichtet die algerische Nachrichtenagentur ISP. Dabei waren rund 100 Menschen getötet worden. Die der gestürzten libyschen Regierung nahestehende Internetseite Libia-S.O.S. kündigte für die kommenden Tage »gute Nachrichten des Widerstandes« an.

Unterdessen mehren sich die Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen durch die neuen Machthaber. Bereits am vergangenen Sonntag berichtete die Washington Post, derzeit befänden sich rund 7000 Kriegsgefangene in den Händen der NTC-Truppen, die in den überfüllten Lagern auch Opfer von Folterungen würden. Am Mittwoch wurde zudem bekannt, daß nahe der lange umkämpften Stadt Sirte und in Tripolis weitere Massengräber mit mehreren hundert Opfern außergerichtlicher Hinrichtungen entdeckt wurden. Die Gesamtzahl der dort verscharrten Leichen bezifferte der Fernsehsender Al-Arabija auf bis zu 900, bei denen es sich vor allem um Ghaddafi-treue Soldaten gehandelt haben soll.

Katar hat unterdessen eingeräumt, auch direkt mit Bodentruppen in den libyschen Bürgerkrieg eingegriffen zu haben. Die Zahl der dort mit den Rebellen kämpfenden katarischen Soldaten sei in die Hunderte gegangen, sagte der Generalstabschef des Emirats, Hamad Bin Ali Al-Atija gegenüber Al-Arabija. Äußerungen von Spaniens Verteidigungsministerin Carme Chacón am Dienstag abend legen nahe, daß auch andere Länder noch stärker an dem Krieg beteiligt sind, als bisher bekannt war. Mit Blick auf die bevorstehende NATO-Entscheidung sagte sie, die spanischen Soldaten »auf libyschem Gebiet« würden bis spätestens 31.Oktober in ihr Heimatland zurückkehren.

Erschienen am 27. Oktober 2011 in der Tageszeitung junge Welt