junge Welt, 30. Mai 2012

Berlin wird Kriegspartei

junge Welt, 30. Mai 2012Die deutsche Bundesregierung hat jede diplomatische Zurückhaltung aufgegeben und sich offen auf die Seite der Aufständischen in Syrien gestellt. Ohne eine vom UN-Sicherheitsrat angemahnte Untersuchung des Massakers vom vergangenen Freitag in der Ortschaft Hula abzuwarten, wies sie am Dienstag den syrischen Botschafter Radwan Loutfi aus. Als »Persona non grata« habe er 72 Stunden Zeit, Deutschland zu verlassen, teilte Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) mit: »Das syrische Regime trägt für die schrecklichen Vorkommnisse in Hula Verantwortung. Wer dort und anderswo in Syrien unter Mißachtung von Resolutionen des Sicherheitsrates schwere Waffen gegen das eigene Volk einsetzt, muß mit ernsten diplomatischen und politischen Konsequenzen rechnen.« Offen forderte Westerwelle einen Regime Change in Damaskus: »Syrien hat unter Assad keine Zukunft. Er muß den Weg für einen friedlichen Wandel in Syrien freimachen.« Praktisch zeitgleich vollzogen die Regierungen der NATO-Staaten USA, Frankreich, Großbritannien, Spanien, Italien und Kanada ähnliche Schritte.

Ungefragt drängelte sich am Dienstag der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Philipp Mißfelder, vor und bot die Entsendung deutscher Soldaten nach Syrien an, vorerst im Rahmen der laufenden UN-Beobachtermission. »Dies ist der Beitrag Deutschlands, die Bemühungen der Vereinten Nationen und ihres Sondergesandten Kofi Annan zur Überwindung der politischen und humanitären Krise in Syrien zu unterstützen«, so Mißfelder. Diese jedoch sind dem Westen gerade im Weg, vermutet der Korrespondent der kubanischen Agentur Prensa Latina in Damaskus, Luis Beaton. »Die bewaffneten Banden versuchen mit allen Mitteln, den Plan des UN-Gesandten Kofi Annan zu begraben und sind gegen eine politische Lösung der Krise in Syrien«, schreibt er und zitiert aus einer Erklärung des »Syrischen Nationalrates« (SNR), der Annan-Plan solle »zum Teufel gehen«.

Auch der russische Außenminister Sergej Lawrow kritisierte, »einige Länder« wollten die jüngsten Ereignisse als Vorwand für militärische Aktionen gegen Syrien mißbrauchen. Der An­nan-Plan sei ihnen im Weg, weshalb sie Druck auf den Sicherheitsrat ausübten, so Lawrow bei einer Pressekonferenz in Moskau. Dem SNR, in dem sich die vom Ausland aus gegen die Regierung in Damaskus operierende Opposition zusammengeschlossen hat, warf er »unverhüllte Aufwiegelung zu einem Bürgerkrieg« vor. SNR-Chef Burhan Ghalioun hatte zuvor alle syrischen Oppositionskräfte aufgefordert, den Kampf fortzusetzen, bis der Sicherheitsrat einem militärischen Eingreifen grünes Licht gebe. Der französische Außenminister Laurent Fabius wollte am Dienstag nur eine Bodenoffensive »zum jetzigen Zeitpunkt« ausschließen. »Die syrische Armee ist schlagkräftig«, begründete er dies in einem Interview mit der Zeitung Le Monde.

Vor diesem Hintergrund äußerte der stellvertretende UN-Botschafter Rußlands, Alexander Pankin, gegenüber Ria-Nowosti die Vermutung, »ausländische Geheimdienste« könnten hinter dem Massaker von Hula stecken. »Wir können uns unmöglich vorstellen, daß so etwas den Interessen der syrischen Regierung entspricht, besonders vor dem Besuch Kofi Annans«, sagte er. »Das entspricht den Interessen der Kräfte, die für einen bewaffneten Kampf auftreten, um den Friedensprozeß zu stören.«

Erschienen am 30. Mai 2012 in der Tageszeitung junge Welt