Bei Null anfangen

Kolumbiens neuer Staatschef Juan Manuel Santos und Venezuelas Präsident Hugo Chávez wollen einen Neustart in den Beziehungen der beiden südamerikanischen Staaten wagen. »Wir haben uns entschlossen, die Seite umzuschlagen und bei Null zu beginnen«, erklärte Santos bei der gemeinsamen Pressekonferenz und vermied damit eine Aussage zu der Frage, ob Bogotá an den Vorwürfen festhält, wonach die kolumbianische Guerilla Stützpunkte auf venezolanischem Staatsgebiet unterhalte. Chávez selbst bekräftigte: »Die von mir geführte Regierung unterstützt und erlaubt keine Präsenz der Guerilla, des Terrorismus und des Drogenhandels auf venezolanischem Territorium.« Nichts Neues sei hingegen, daß illegale Gruppen in Venezuela eindringen, betonte Chávez und erinnerte daran, daß er selbst schon 1975 als junger Soldat an der Überwachung der Grenze zum Nachbarland beteiligt war.

Trotz der offensichtlich erfolgreichen Gespräche vermieden es die beiden Staatschefs, allzuviel Euphorie zur Schau zu stellen und beließen es bei einem höflichen Händedruck. »Präsident Chávez und ich sind uns einig, daß wir das Wohlergehen unserer Völker über jede persönliche Differenz stellen müssen«, erklärte Santos. »Ich glaube, wir wären schlecht beraten und würden unser Mandat verraten, wenn wir Beziehungen knüpfen würden, bei denen wir nach einigen Monaten wieder am Nullpunkt ständen. Langsam, aber mit festem Schritt zu gehen, ist langfristig sehr viel produktiver, als uns zu beeilen, um Abkommen zu schließen, die morgen nicht mehr taugen oder nicht das Ergebnis haben, das die Welt erwartet.« Fünf bilaterale Kommissionen sollen dafür sorgen, daß Probleme künftig auf diplomatischem Weg gelöst werden. An oberster Stelle steht dabei ein Ausschuß, der die Wiederherstellung der Handelsbeziehungen vorantreiben soll. Zahlreiche kolumbianische Unternehmen sind in den vergangenen Monaten in Schwierigkeiten geraten, nachdem Venezuela im Zuge der Krise Bestellungen in Kolumbien storniert hatte. Hinzu kommen offenbar zahlreiche offene Rechnungen kolumbianischer Firmen, die von Venezuela noch nicht beglichen wurden. Beide Regierungen müssen nun herausfinden, welche dieser Forderungen berechtigt sind und bei welchen es sich um überzogene Rechnungen oder Fälschungen handelt. Daneben wollen beide Regierungen gemeinsame Investitionen in der Grenzregion vornehmen, von denen die Gemeinden auf beiden Seiten profitieren sollen.

Nach Meinung internationaler Beobachter wächst durch die Entspannung zwischen den Regierungen auch die Möglichkeit einer Verhandlungslösung für den seit Jahrzehnten anhaltenden Bürgerkrieg in Kolumbien. »Der Amtsantritt eines gemäßigteren Präsidenten hat die wenn auch geringe Möglichkeit von Gesprächen mit den marxistischen Rebellen eröffnet«, kommentierte am Mittwoch die Washington Post. Tatsächlich hatte Santos am vergangenen Sonnabend bei seiner Ansprache zum Amtsantritt erklärt, die Tür für Gespräche sei »nicht mit einem Schlüssel versperrt«. Seine Regierung werde »für jedes Gespräch offen sein, daß einer Beseitigung der Gewalt und dem Aufbau einer wohlhabenderen und gerechteren Gesellschaft dient«. Santos sei »nicht so vom Haß auf die FARC zerfressen« wie sein Vorgänger Uribe, kommentierte dies in der Washington Post der Militäranalyst Adam Isacson. Auch der Herausgeber der kolumbianischen kommunistischen Wochenzeitung Voz, Carlos Lozano, zeigt sich vorsichtig optimistisch: »Es ist wichtig, daß der neue Präsident die Möglichkeit eines Dialogs mit der Guerilla angesprochen hat. Uribe hat eine solche Möglichkeit in acht Jahren erbitterten Krieges, die dem Land hohe humanitäre Kosten aufgebürdet haben, nie erwähnt.« Allerdings wolle Santos den Krieg fortsetzen, um die Guerilla zu besiegen, kritisiert Lozano: »Wenn dies die Friedensstrategie ist, ist ihr Scheitern bereits programmiert.«

Erschienen am 12. August 2010 in der Tageszeitung junge Welt und am 13. August 2010 in der Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek