Barrikaden in Madrid

Mehrere Millionen Menschen haben am Donnerstag abend in rund 80 Städten Spaniens gegen die Kürzungspolitik der Regierung von Ministerpräsident Mariano Rajoy demonstriert. Zu den Protesten hatten alle großen Gewerkschaftsverbände und unzählige weitere Organisationen aufgerufen – allein in Madrid mehr als 1000 Vereinigungen, von Nachbarschaftszusammenschlüssen über die Menschenrechtsorganisation Amnesty International und Berufsverbänden bis hin zur anarchosyndikalistischen CNT und den »Empörten«. Bei der Kundgebung in der Hauptstadt zählten die Veranstalter 800000 Teilnehmer – die Polizei sprach lediglich von 40000 Demonstranten. In Barcelona waren 400000 Menschen auf der Straße.

Unmittelbar zuvor hatte der spanische Kongreß mit der Mehrheit der postfranquistischen Volkspartei (PP) den umfangreichsten Sozialabbau seit dem Ende der Franco-Diktatur beschlossen. 65 Milliarden Euro sollen innerhalb von zwei Jahren gestrichen werden. Das werde den Verlust von mehr als einer Million weiteren Arbeitsplätzen nach sich ziehen, kritisierte der Chef der Vereinigten Linken (IU), Cayo Lara. Bei einer Pressekonferenz in Madrid warf der Generalsekretär der Arbeiterkommissionen (CCOO), Ignacio Fernández Toxo, der Regierung vor, Menschen in extreme Armut zu stürzen, die an der Krise unschuldig seien. Erstmals hatten alle großen Gewerkschaftsverbände gemeinsam zum Gespräch mit den Journalisten eingeladen. Sie fordern eine Volksabstimmung über die Streichungen. Sollte diese nicht durchgeführt werden, werde man zu einem weiteren Generalstreik aufrufen. Im Baskenland, wo die nationalistischen Gewerkschaften ELA und LAB nicht zu den Demonstrationen am Donnerstag aufgerufen hatten, ist ein solcher Ausstand für den 26. September bereits angekündigt. Zudem wollen die Beschäftigten aller Bildungseinrichtungen Madrids – von den Kindergärten bis zu den Hochschulen – mit dem Ende der Sommerferien am 17. September in einen unbefristeten Streik treten.

»Der nächste Arbeitslose muß ein Abgeordneter sein«, gehörte zu den am häufigsten gerufenen Sprechchören der Großdemonstration in Madrid. Über den Teilnehmern wehten unzählige rote Fahnen, Banner der verschiedenen Organisationen und Flaggen der Spanischen Republik (1931–1939). Nachdem auf der Kundgebung von bekannten Schriftstellern ein »Soziales und gewerkschaftliches Manifest gegen die Kürzungen« verlesen wurde (»Wie können wir eine Regierung respektieren, die ein Geheimprogramm aus der Tasche zieht?«), sangen die Demonstranten mit erhobenen Fäusten gemeinsam die Internationale. Erneut beteiligten sich zahlreiche Feuerwehrleute und Polizisten in Uniform an dem Zug, die sich zeitweilig zudem in die erste Reihe der Kundgebung stellten, um die anderen Teilnehmer vor Übergriffen durch die paramilitärischen Aufstandsbekämpfungseinheiten zu beschützen. Diese waren im Zentrum der Hauptstadt aufgeboten worden, um eine befürchtete Besetzung des Parlaments durch die Menge zu verhindern. Zehntausende belagerten dennoch das Gebäude und errichteten Barrikaden. Die Beamten gingen mit Tränengas und Gummigeschossen gegen die Protestierenden vor und feuerten mit scharfen Waffen in die Luft. Einem Bericht der Tageszeitung El País zufolge wurden 15 Demonstranten festgenommen, unter ihnen ein Feuerwehrmann und ein minderjähriges Mädchen. 39 Menschen wurden verletzt.

Gemeinsam verfaßt mit Carmela Negrete. Erschienen am 21. Juli 2012 in der Tageszeitung junge Welt