Augen zu und durch

Die EU und die griechische Regierung halten trotz wachsender Kritik daran fest, ab Montag Flüchtlinge von den griechischen Inseln in die Türkei abzuschieben. Die rechtlichen Voraussetzungen dafür sollte das Parlament in Athen am Freitag im Eilverfahren verabschieden. Dazu gehörte vor allem die Anerkennung der Türkei als »sicherer Drittstaat«.

Nach dem zwischen der EU und Ankara vereinbarten Abkommen sollen alle Flüchtlinge, die nach dem 20. März »illegal« Griechenland erreicht haben, zwangsweise in die Türkei zurückgebracht werden. Einem Bericht der Nachrichtenagentur AFP zufolge sollen allein am Montag 500 Menschen abgeschoben werden. »Noch ist völlig ungewiss, was am kommenden Montag geschehen wird«, sagte ein Offizier der griechischen Küstenwache der Deutschen Presseagentur. »Werden sich die Menschen freiwillig aus den Lagern abtransportieren lassen? Werden wir sie in Handschellen legen müssen? Wird es zu Aufständen kommen? Und was tun wir dann?«

Seit Inkrafttreten das Pakts zwischen Brüssel und Ankara sind 5.000 Menschen auf den griechischen Inseln eingetroffen, die in Auffanglagern unter teilweise unzumutbaren Bedingungen interniert wurden. Ihnen wurde zwar eine »Einzelfallprüfung« zugesagt, doch Aussicht darauf, in Griechenland bleiben zu dürfen, haben nach Angaben der dpa nur diejenigen, die überzeugend darstellen können, »dass ihr Leben und ihre Rechte in der Türkei in Gefahr sind«.

Die Forderung nach einem solchen Nachweis ist zynisch. Seit Januar habe Ankara fast täglich syrische Männer, Frauen und Kinder in Gruppen von bis zu 100 Menschen nach Syrien abgeschoben, berichtete am Freitag die Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Dieser Verstoß gegen internationales Recht sei ein weiterer Beleg dafür, dass die Türkei »kein sicherer Drittstaat für Flüchtlinge ist, in den die EU bedenkenlos Schutzbedürftige zurückschicken kann«. Marie Lucas, Türkei-Expertin von Amnesty in Deutschland, informierte, dass in einem Fall drei kleine Kinder ohne ihre Eltern nach Syrien abgeschoben wurden, in einem anderen Fall sei eine hochschwangere Frau zur Rückkehr in das Bürgerkriegsland gezwungen worden. Am Donnerstag hatten britische Medien berichtet, dass türkische Soldaten an der Grenze zu Syrien gezielt auf Flüchtlinge schießen. Dabei sollen allein in den vergangenen vier Monaten mindestens 16 Menschen getötet worden sein, unter ihnen drei Kinder.

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) appellierte an Brüssel und Ankara, vor der Umsetzung des Pakts alle erforderlichen Schutzmaßnahmen für die betroffenen Menschen zu garantieren. Dies sei längst noch nicht der Fall, kritisierte UNHCR-Sprecherin Melissa Fleming am Freitag in Genf.

Auf der griechischen Insel Chios brachen am Freitag mindestens 500 Menschen aus dem dortigen Internierungslager aus. Wie die Zeitung Ta Nea auf ihrer Internetseite berichtete, schnitten sie den Maschendrahtzaun auf, der das Lager umgibt, und machten sich auf den Weg zum Hafen der Insel. Ihr Leben sei dort nicht mehr sicher, sagten sie Journalisten. In dem »Hotspot« war es in der Nacht zuvor offenbar als Folge der Überbelegung zu Ausschreitungen zwischen Afghanen und Syrern gekommen. Das Lager ist für 1.200 Menschen ausgelegt, inzwischen werden dort nach Angaben des Internetportals 902.gr jedoch bereits 1.650 Personen festgehalten.

Erschienen am 2. April 2016 in der Tageszeitung junge Welt