Aufstand im Hinterhof

Die meisten Medien sprechen von »Europa«, wenn sie die EU meinen, als würden Brest und Lwiw schon in Asien liegen. Und ist die Rede von »Amerika«, dann geht es zumeist um die USA.

Einen anderen Blick auf den Kontinent hatte José Martí (1853–1895), als er 1891 in den USA und Mexiko ein Essay veröffentlichte, dem er den Titel »Unser Amerika« gab. Martí wird in Kuba bis heute als Nationaldichter und Held des Kampfes um die Unabhängigkeit der Insel verehrt. In zahlreichen Schriften und gerade in diesem Essay stellte er sich auf die Seite des Amerikas der Arbeiter, der Mestizen und der indigenen Völker »vom Rio Bravo bis zur Magellanstraße«, also von der Grenze zwischen den USA und Mexiko bis zur Südspitze des Kontinents in Chile. Er rief dazu auf, sich auf die eigene Kultur Lateinamerikas zu besinnen, statt Rezepte aus den USA oder Europa nachzuahmen. Es müsse die Geschichte der Inkas gelehrt werden, selbst wenn die Schüler dann weniger über die alten Athener erfahren würden: »Unser Griechenland ist dem Griechenland vorzuziehen, das nicht unseres ist.«

Einer der wichtigsten kubanischen Schriftsteller der Gegenwart, Roberto Fernández Retamar, griff diese Diskussion 1971 in seinem Aufsatz »Calibán« auf. Ein Journalist habe ihn gefragt, ob es überhaupt eine lateinamerikanische Kultur gebe – »doch unsere Kultur in Frage zu stellen bedeutet, unsere eigene Existenz, unsere eigene menschliche Realität anzuzweifeln«. Unter ausdrücklichem Rückgriff auf Martís Essay kritisierte Retamar eine von linken wie rechten Intellektuellen der »Ersten Welt« geübte Praxis, die Lateinamerikaner als »Lehrlinge« oder »schlechte Kopie der Europäer« anzusehen. Martí habe geschrieben, dass er nicht nur »von Vätern aus Valencia und Müttern von den Kanaren« abstamme, sondern dass in seinen Adern auch »das kochende Blut von Tamanaco und Paramaconi« fließe. »Ich vermute«, so Retamar in seinem Aufsatz, »dass der Leser, sofern er kein Venezolaner ist, mit diesen von Martí genannten Namen nichts anfangen kann. Auch ich konnte das nicht.« Tamanaco und Paramaconi waren Indígenas, die sich im 16. Jahrhundert im heutigen Venezuela der Versklavung durch die spanischen Eroberer widersetzten. Sie seien von der kolonialen Historiographie ebenso der Vergessenheit anheimgegeben worden, wie die bürgerliche Geschichtsschreibung versucht habe, »die Helden der Commune von 1871 oder die Märtyrer des 1. Mai 1886 auszulöschen«, so Retamar.

Der Kampf um die eigene Kultur prägt die Auseinandersetzungen in »Unserem Amerika« bis heute. Der argentinische Präsident Mauricio Macri machte am Unabhängigkeitstag seines Landes, dem 9. Juli 2016, vor Spaniens abgedanktem König Juan Carlos I. den Bückling und entschuldigte sich dafür, dass seine Landsleute vor 200 Jahren die Abspaltung von Spanien beschlossen hatten. Gibt es irgendeine Gemeinsamkeit zwischen einem solchen Lakaien und Persönlichkeiten wie dem 2013 verstorbenen venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez, der 2007 über Juan Carlos sagte: »Der König ist ebenso Staatschef wie ich, mit dem Unterschied, dass ich gewählt wurde. Der Indio Evo Morales ist ebenso ein Staatschef wie der König Juan Carlos de Borbón.«

Noch ist nicht absehbar, ob sich in »Unserem Amerika« die Lakaien oder die »Indios« durchsetzen. Unsere Sympathien haben nicht diejenigen, die sich durch Unterordnung unter die alten und neuen Imperien den »Platz an der Sonne« sichern wollen. Wir stehen auf der Seite derjenigen, die »Schluss gesagt und sich auf den Weg gemacht haben«, wie es der Argentinier und Kubaner Che Guevara 1964 vor der UNO formulierte. »Und ihr Marsch der Giganten wird nicht aufzuhalten sein, bis die wirkliche Unabhängigkeit erkämpft ist.«

Erschienen am 20. Juli 2016 in der Beilage »Unser Amerika« der Tageszeitung junge Welt