junge Welt, 8. Februar 2013

Aufschrei in Tunesien

junge Welt, 8. Februar 2013Der am Mittwoch ermordete tunesische Oppositionspolitiker Chokri Belaïd soll am heutigen Freitag in Tunis beigesetzt werden. Das kündigte der Bruder des Getöteten im tunesischen Rundfunk an. Die von Belaïd geführte Partei der Demokratischen Patrioten (PPD) hat für diesen Tag zusammen mit der Volksfront, einem Zusammenschluß von rund einem Dutzend linker Organisationen, einen Generalstreik proklamiert. Auch der Gewerkschaftsbund UGTT hat seine Mitglieder aufgerufen, in allen Städten Tunesiens die Arbeit niederzulegen, um damit gegen das »abscheuliche Verbrechen« zu protestieren, »das als Versuch, die freie und demokratische Zivilgesellschaft zum Schweigen zu bringen, die Tür zu politischen Morden öffnet«. In einer Erklärung macht die UGTT die Übergangsregierung für die Zunahme der politischen Gewalt verantwortlich.

Chokri Belaïd war am Mittwoch morgen von bislang unbekannten Tätern erschossen worden (jW berichtete). Der am 26. November 1964 geborene Politiker war eine der bekanntesten Führungspersönlichkeiten der im Herbst 2012 gegründeten Volksfront und Generalsekretär der kleinen, marxistisch und panarabisch orientierten PPD, die mit einem Abgeordneten in der verfassunggebenden Versammlung vertreten ist. Bereits unter der Herrschaft des 2011 gestürzten tunesischen Staatschefs Zine Al-Abidine Ben Ali war er als Menschenrechtsaktivist bekannt geworden. Der studierte Rechtsanwalt verteidigte in dieser Zeit immer wieder Angeklagte in politischen Prozessen, wurde jedoch auch selbst mehrfach inhaftiert. Ab 2005 gehörte er gemeinsam mit dem früheren US-Justizminister und bekannten Antikriegsaktivisten Ramsey Clark dem internationalen Verteidigerteam im Prozeß gegen den früheren irakischen Staatschef Saddam Hussein an. Nach dem Sturz Ben Alis wurde Belaïd zu einem harten Gegner der von der islamistischen Ennahda-Partei geführten tunesischen Übergangsregierung. Noch am Dienstag hatte er deren Anhängern vorgeworfen, den tunesischen Staat auflösen zu wollen und mit Milizen zur Terrorisierung Andersdenkender eine »Spirale der Gewalt« in Gang gesetzt zu haben.

Der Mord an dem linken Politiker hat in Tunis eine Regierungskrise ausgelöst. Unmittelbar nach Bekanntwerden des Verbrechens und den ersten Protesten hatte Ministerpräsident Hamadi Dschebali die Auflösung der Regierung und die Bildung eines Kabinetts aus »unabhängigen Experten« angekündigt. Dem widersetzte sich am Donnerstag jedoch seine eigene Ennahda. »Der Ministerpräsident hat die Partei nicht nach ihrer Meinung gefragt«, sagte der Vizechef der Islamisten, Abdel Hamid Dschelassi, der Nachrichtenagentur Reuters. Die Zentrale der Partei war am Mittwoch von aufgebrachten Demonstranten in Brand gesetzt worden. Bei den Auseinandersetzungen kam ein Polizist ums Leben. Am Donnerstag hielten die Proteste an. In Tunis zogen Hunderte Menschen durch die schwer gesicherte Habib-Bourguiba-Allee und riefen »Das Volk will den Sturz des Regimes«, wie ein AFP-Reporter berichtete. Zwischen den Demonstranten und Sicherheitskräften kam es zu Zusammenstößen, als die Menge sich dem Innenministerium näherte. Die Beamten setzten Tränengas ein und gingen mit Schlagstöcken gegen die Protestierenden vor. Auch in der Stadt Gafsa gab es vor dem Sitz der Provinzregierung gewaltsame Zusammenstöße.

Erschienen am 8. Februar 2013 in der Tageszeitung junge Welt