Auf den Barrikaden

Hamburg im Herbst 1987. Auf der Hafenstraße stehen Barrikaden. Es geht um eine Reihe von Häusern, die profitablen Neubauten weichen sollen. Die Bewohner werden zum Hassobjekt von Mainstreammedien, der CDU und dem rechten Flügel der Hamburger SPD. Immer wieder kommt es zu Polizeieinsätzen, mehrfach werden besetzte Häuser oder Wohnungen geräumt, kurz darauf jedoch wieder besetzt. Ende Oktober 1987 erscheint die Lage ausweglos. Während die Besetzer ihre Häuser befestigen, bereitet die Polizei deren Erstürmung vor.

Am 31. Oktober 1987 fordern Tausende auf einer Demo den Erhalt der Häuser und Mietverträge für die Bewohner. Den Soundtrack liefert ein Piratensender: Radio Hafenstraße. Erst dröhnt Punkrock aus dem Äther. Dann Möwengeschrei, Schiffssirenen, Böllerschüsse, die Klänge der »Internationale« schwellen an: »Radio Hafenstraße auf 96,8 MHz! Wir sind ein neuer, freier Sender. Wir nehmen uns das Recht, öffentlich unsere Meinung zu sagen und uns darzustellen.«

An Hörern mangelt es nicht, auch weil die Hamburger Morgenpost mit aufgeregten Schlagzeilen unfreiwillig Werbung für den Sender macht. Stolz teilen die anonymen Moderatoren mit, Radio Hafenstraße sei ein »neuer Schritt in der Geschichte der freien Radios in Hamburg«, denn im Unterschied zu früheren Piratensendern verfüge man »über einen fest installierten Sender«. Drei Wochen lang wird gesendet. Die Bundespost hat die Schwarzfunker zwar schnell geortet – doch hinter Barrikaden und Stahltüren hat Radio Hafenstraße wenig zu befürchten. Ein Verstoß gegen das Fernmeldeanlagengesetz ist in jenen Tagen das kleinste Problem der Behörden.

In den Kneipen auf St. Pauli und im Schanzenviertel läuft kaum noch etwas anderes. Sympathisanten halten sich über den Sender auf dem laufenden, Taxifahrer nutzen den alternativen Verkehrsfunk – der informiert zuverlässig über Polizeikontrollen und Straßensperren.

Der Senat verlangt von den Besetzern, alle Befestigungen abzubauen, dann werde man einen Vertrag unterzeichnen. Doch in den Häusern befürchtet man eine Falle. In dieser Situation beweist Hamburgers Erster Bürgermeister Klaus von Dohnanyi einen kühlen Kopf. »Ich verpfände mein Amt«, erklärt er am 16. November öffentlich und garantiert, den Vertrag zu unterzeichnen, wenn bis zum folgenden Tag die Barrikaden weg sind.

Bewohner und Unterstützer nehmen das Angebot an. Über Radio Hafenstraße wird zum Arbeitseinsatz mobilisiert. Viele helfende Hände werden gebraucht, denn: »Es sind schöne Barrikaden, es sind große Barrikaden!« Der Piratensender liefert die Musik zum großen Subbotnik: Ernst Busch singt »Arbeiter, Bauern, nehmt die Gewehre zur Hand«. Dann verstummt Radio Hafenstraße. Nur im Mai 1989 ist der Sender nochmals kurz On air: Vor Hunderttausenden Touristen, die den 800. Hafengeburtstag feiern, will die Polizei keinen Großeinsatz riskieren. Rechtzeitig vor Ende des Trubels schalten die Radiomacher wieder ab.

Erschienen am 24. Oktober 2019 in der Tageszeitung junge Welt