Alles oder nichts

Am 12. Februar erinnerte Venezuela in diesem Jahr nicht an die traditionell als »Tag der Jugend« begangene »Schlacht von La Victoria« 1814, sondern vor allem an den ersten Jahrestag des Beginns gewaltsamer Proteste gegen die Regierung, die in den folgenden Monaten nach offiziellen Angaben auf beiden Seiten 42 Tote und mehr als 900 Verletzte gefordert hatten. Die Zusammenstellung der Nachrichten, die nun aus dem südamerikanischen Land kommen, ist natürlich kein Zufall. AFP meldet Zusammenstöße in dem nahe der kolumbianischen Grenze gelegenen San Cristóbal, das im vergangenen Jahr eine Hochburg der Proteste gewesen war. In Caracas demonstrierten zugleich Tausende Studenten ihre Unterstützung für die Regierung. Reuters informiert über einen Einbruch der venezolanischen Währung. Die deutsche Botschaft in Caracas ruft die Bundesbürger in Venezuela zum Horten von Lebensmitteln auf, während in Moskau die Energieminister von Russland, Ecuador und Venezuela über Strategien gegen den Ölpreisverfall beraten. Und Präsident Nicolás Maduro informiert, dass die Sicherheitskräfte einen weiteren Putschversuch vereitelt hätten.

Unabhängig davon, wie man jede einzelne Nachricht für sich bewertet: Die Meldungen demonstrieren eine Zuspitzung der Lage in Venezuela. Die Opposition ist zerstritten. Es gibt einen »demokratischen« Flügel, der die Ende des Jahres anstehenden Parlamentswahlen nutzen will, und eine radikale Strömung, die auf einen Sturz der Regierung sofort und ohne Rücksicht auf die geltenden Gesetze hinarbeitet. Diese wird aktiv aus Kolumbien und aus den USA unterstützt, wo vor allem in Miami »Exilvenezolaner« längst eine unheilvolle Allianz mit den »exilkubanischen« Ultras geschmiedet haben. Für sie werden Kuba und Venezuela längst von einer »castro-kommunistischen Diktatur« beherrscht, gegen die nur Gewalt und ein Aufstand der Militärs hilft.

Beiden Flügeln der Opposition ist es seit dem Amtsantritt von Hugo Chávez 1999 bis heute nie gelungen, tatsächliche Alternativen zur Regierungspolitik zu formulieren, zumal bis vor wenigen Monaten die sozialen Kennziffern ohne Wenn und Aber Erfolge vor allem der Sozialpolitik der Regierung zur Bekämpfung der Armut belegt haben. Trotzdem griffen die Rechten immer wieder zur Gewalt, der Putschversuch vom 11. April 2002 ist unvergessen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Regierung in Caracas gerade vorwärts prescht oder sich, wie in den vergangenen Jahren, gemäßigt gibt und auf radikale Maßnahmen verzichtet. Der Opposition geht es immer um das »Alles oder nichts«. Die Morgenluft, die ihre Protagonisten jetzt wittern, speist sich aus dem unsicheren Agieren von Staatschef Maduro. Zwar kündigt dieser seit Monaten radikale Maßnahmen gegen den »Wirtschaftskrieg« an, doch an spürbaren Konsequenzen mangelt es bislang. Trotz des vor zehn Jahren proklamierten Versuchs, in Venezuela den Sozialismus aufzubauen, hat es bislang keinen Bruch mit der kapitalistischen Systemlogik gegeben. Nötig wäre er.

Erschienen am 14. Februar 2015 in der Tageszeitung junge Welt