Afghanistan zerfällt

Menschenrechte, Gleichberechtigung der Frauen, Bekämpfung des religiösen Extremismus – als eine ganz große Koalition am 16. November 2001 im Bundestag die Intervention in Afghanistan beschloß, war dies von hehren Worten und großen Versprechungen begleitet. SPD, Grüne, CDU/CSU und FDP stimmten fast geschlossen für den Militäreinsatz am Hindukusch. Nur 35 Parlamentarier votierten dagegen, die meisten von ihnen aus den Reihen der damaligen PDS, deren Fraktion bis auf eine Enthaltung die deutsche Kriegsbeteiligung geschlossen ablehnte.

 

Knapp zwölf Jahre später heißt es nur noch: Rette sich, wer kann. Der Krieg ist verloren. Während die Bundeskanzlerin Durchhalteparolen ausgibt, heißt es in der vertraulichen »Unterrichtung des Parlaments« des Bundesverteidigungsministeriums vom vergangenen Mittwoch, die Bedrohungslage sei »insgesamt erheblich«, das heißt: »Mit Angriffen wird in naher Zukunft gerechnet.«

Auch in den Geheimdiensten der EU macht man sich über die Zustände in Afghanistan keine Illusionen mehr: Das Land wird in Machtbereiche lokaler Warlords, der Taliban und der Mafia zerfallen. Die Rechte der Menschen, für deren »Befreiung« bislang 54 deutsche Soldaten und Tausende der zu »Befreienden« getötet wurden, spielen auch verbal keine Rolle mehr.

Am 21. Juni – drei Tage, bevor die Bundesregierung am vergangenen Montag ihren aktuellen Zwischenbericht über die »Fortschritte« in Afghanistan vorlegte – referierte in Brüssel ein Vertreter des EU-Geheimdienstes ­INTCEN über das »wahrscheinlichste Szenario in der Post-2014-Zeit«, also nach dem Abzug von Teilen der internationalen Besatzungstruppen. Vor den Mitgliedern der Arbeitsgruppe »Terrorismus« des »Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees« des Europäischen Rates machte der Referent keinen Hehl aus der tatsächlichen Lage am Hindukusch. Die afghanischen Sicherheitskräfte dürften sich künftig »auf den Schutz der Hauptstadt und anderer wichtiger Städte sowie kritischer Infrastrukturen konzentrieren«. Damit blieben ländliche Bereiche den »jeweils dort mächtigsten lokalen Gruppierungen überlassen«. Die »Frage der Erhaltung von bürgerlichen Rechten und Freiheiten dürfte ganz dem ›good will‹ der Insurgenten überlassen sein«, wird der Referent in einer junge Welt vorliegenden Zusammenfassung zitiert.

Bezeichnend ist die Lagebeschreibung für die nordafghanische Provinz Baghlan, in der bis vor kurzem die Bundeswehr mit mehreren hundert Soldaten stationiert war. Am 15. Juni übergab sie den Stützpunkt »Post North« an die einheimischen Truppen. »Derzeitiger Zustand der nördlichen afg. Provinz Baghlan wurde mit ihrer Zweiteilung in einen von Taliban beherrschten Teil und ein vom organisierten Verbrechen diktiertes Gebiet mit relativer Stabilität und geringer Insurgenz, solange sich beide Interessensphären nicht ins Gehege kommen, als möglicherweise beispielhaft für die Lage in Afghanistan nach dem Abzug internationaler Truppen 2014 vorgestellt«, heißt es in dem als »Verschlußsache – Nur für den Dienstgebrauch« gekennzeichneten Papier aus dem Auswärtigen Amt. Bereits jetzt sei ein »starker Rückfluß von Insurgenten« aus Pakistan in den Osten Afghanistans festzustellen. »Weitere militärische Präsenz des Westens« sei »notwendig«. Verärgert beobachten die Europäer die beginnenden Kontakte zwischen Washington und den Islamisten: »Gespräche zwischen USA und Taliban seien exklusiv und falscher Ansatz.«

Erschienen am 29. Juni 2013 in der Tageszeitung junge Welt