1177 Tage ohne Beweise im Gefängnis

Nach drei Jahren und drei Monaten Haft ist der Journalist Joaquín Pérez Becerra am Donnerstag abend (Ortszeit) offenbar aus dem Hochsicherheitsgefängnis La Picota in Bogotá entlassen worden. Das bestätigte am Freitag das alternative Internetportal ANNCOL, dessen Chefredakteur Pérez Becerra bis zu seiner Verhaftung gewesen war. Zuvor hatte ein Berufungsgericht in der kolumbianischen Hauptstadt am Donnerstag festgestellt, daß gegen den Journalisten keine gerichtsverwertbaren Beweise vorlägen, die eine von der Staatsanwaltschaft behauptete Mitgliedschaft in der FARC-Guerilla belegen würden. Die Richter hoben deshalb eine erstinstanzliche Verurteilung zu acht Jahren Haft auf und ordneten die sofortige Freilassung des Gefangenen an. Pérez Becerra war zur Last gelegt worden, an Verhandlungen zwischen der schwedischen Regierung und den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens teilgenommen zu haben, bei denen es um die Freilassung eines schwedischen Staatsbürgers gegangen sei, den die Guerilla in ihre Gewalt gebracht hatte. Durch seine Vermittlung habe Pérez Becerra erreicht, daß Stockholm den Weiterbetrieb der in Schweden ansässigen ANNCOL-Internetseite akzeptierte. Gestützt hatte sich die Staatsanwaltschaft bei dieser Geschichte auf einen von der kolumbianischen Botschaft in Schweden ausfindig gemachten Zeugen, den die Verteidigung schon vor dessen erster Vernehmung als »gekauft« abgelehnt hatte.

 

Joaquín Pérez Becerra war im April 2011 festgenommen worden, als er aus Frankfurt kommend am Internationalen Flughafen von Maiquetia bei Caracas landete. Obwohl er die schwedische Staatsbürgerschaft besitzt und als politischer Flüchtling anerkannt ist, wurde er nur zwei Tage später von der venezolanischen Justiz an Kolumbien ausgeliefert – offensichtlich mit ausdrücklicher Zustimmung der Regierung des damaligen Präsidenten Hugo Chávez. Dieser hatte offenbar eine erneute Verschlechterung der Beziehungen zum Nachbarland um jeden Preis verhindern wollen. Offiziell erklärten die Behörden in Caracas, der Journalist sei nicht »ausgeliefert«, sondern »abgeschoben« worden, um die Vorgänge zu beschleunigen. In Venezuela protestierten trotzdem Gewerkschafter, führende Vertreter der Kommunistischen Partei PCV und auch Funktionäre der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei PSUV. Eine Revolution dürfe keine Revolutionäre ausliefern, kritisierten sie. Pérez Becerras Rechtsanwalt Hugo Martínez erklärte, der Umgang mit seinem Mandanten sei vollkommen »anormal« gewesen und habe weder den in Venezuela geltenden Vorschriften für eine Auslieferung noch denen für eine Abschiebung entsprochen. Der von Bogotá über Interpol beantragte internationale Haftbefehl gegen Pérez Becerra sei erst ausgestellt worden, als dieser sich auf venezolanischem Staatsgebiet befunden habe. Zudem sei seinem Mandanten konsularischer und anwaltlicher Beistand verweigert worden. »Dem schwedischen Staatsangehörigen Joaquín Pérez ist das Recht auf ein faires Verfahren verweigert worden«, beklagte der Jurist.

Schon zu diesem Zeitpunkt hatte Joaquín Pérez Becerra eine lange Geschichte der Verfolgung hinter sich. Für die Patriotische Union (UP) wurde er zweimal in den Stadtrat von Corinto im Valle del Cauca gewählt. Die Partei war Ende der 80er Jahre im Zuge letztlich gescheiterter Friedensverhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und den FARC gegründet worden. Nachdem er Morddrohungen erhalten hatte, entschieden die UP und die ihr nahestehende Kolumbianische Kommunistische Partei, daß Pérez Becerra das Land verlassen sollte, um sein Leben zu retten. Insgesamt fielen 5000 Mitglieder der UP dem schmutzigen Krieg des Regimes und der Paramilitärs gegen die linke Partei zum Opfer. Joaquín ging nach Schweden, wo er als politischer Flüchtling anerkannt wurde. Später nahm er die schwedische Staatsbürgerschaft an und gründete eine Familie. Zusammen mit anderen Flüchtlingen entwickelte er Ende der 90er Jahre ANNCOL, die Alternative Nachrichtenagentur Neues Kolumbien, um über die tatsächlichen Vorgänge in seiner Heimat zu berichten.

Dem Regime in Bogotá galt ­ANNCOL dagegen als Sprachrohr der FARC, weil das Portal auch Erklärungen der Guerilla veröffentlichte. Die Festnahme des Chefredakteurs sollte die unbequeme Agentur zum Schweigen bringen, doch das gelang nicht. Zwar geriet ­ANNCOL nach der Inhaftierung ihres führenden Kopfes zunächst ins Schlingern – auch weil die Internetadresse offenbar auf Druck aus Bogotá zeitweilig abgeschaltet wurde –, konnte aber stabilisiert werden und die Arbeit fortsetzen. Am Freitag begrüßte das Team der Agentur ihren zurückkehrenden Kollegen »Joaco« in der Freiheit und kommentierte: »Man sagt, daß Lügen kurze Beine hätten, doch Joaco hat die Lüge drei Jahre und drei Monate geraubt.«

Erschienen am 19. Juli 2014 in der Tageszeitung junge Welt